Neuerungen des Strafverfahrens Teil 2: Erscheinenspflicht von Zeugen
Liebe Unioner,
eine erhebliche Gesetzesänderung, die das strafrechtliche Verfahren ab sofort prägen wird, betrifft das Ermittlungsverfahren. Dieses ist dem Zwischenverfahren (hier entscheidet das Gericht, ob die Anklage der Staatsanwaltschaft zugelassen wird) und dem Hauptverfahren (nach Anklageerhebung) vorgeschaltet. Genau geht es bei der Änderung um die polizeiliche Vernehmung von Zeugen.
Zeugen sind nämlich ab sofort verpflichtet, auf Ladung der Polizei zur Zeugenaussage zu erscheinen und zur Sache auszusagen, wenn der Ladung ein Auftrag der Staatsanwaltschaft zugrunde liegt, § 163 Abs. 3 Strafprozessordnung (StPO). Bislang bestand gegenüber der Polizei, anders als bei gerichtlichen (§ 48 Abs. 1 StPO) und staatsanwaltschaftlichen (§ 161a Abs. 1 StPO) Vernehmungen, für Zeugen keine Erscheinens- und Aussagepflicht. Es gab keinerlei Verpflichtung, Zeugenladungen der Polizei zu folgen. Das galt völlig unabhängig davon, ob dem Zeugen darüber hinaus noch besondere Zeugnisverweigerungsrechte (u.a. Verwandtschaft mit dem Beschuldigten) oder Auskunftsverweigerungsrechte (Gefahr der Selbstbelastung) zustanden. Wer nicht mit der Polizei reden wollte, musste dies auch nicht. Die Polizei hatte keinerlei Zwangsmittel, um nicht aussagebereite Zeugen zu Angaben zu zwingen.
Daran hält der Gesetzgeber nunmehr nicht mehr fest, hauptsächlich mit der Begründung, mit dem neuen Gesetz dem bislang „unnötigen Ressourcenaufwand und der zusätzlichen Verfahrensverzögerung“ entgegenzuwirken. Nach dem bisher geltenden Verfahrensrecht hatte die Polizei lediglich die Möglichkeit, Zeugen darauf hinzuweisen, dass sie im Weigerungsfalle auf ihre Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht hinwirken wird.
Doch was durch diese gesetzliche Neuerung folgt, sind weitreichende praktische Probleme, deren Lösungen derzeit noch weitestgehend offen bleiben. Die große Frage wird vor allem sein, wie konkret der „Auftrag“ der Staatsanwaltschaft sein muss – denn dessen Anforderungen gehen aus dem neu beschlossenen Gesetz nicht hervor, weder hinsichtlich der Ladungsfrist noch hinsichtlich der Form! Vom Wortlaut her würde es sogar ausreichen, wenn ein Staatsanwalt der zuständigen Polizei vorab den pauschalen „Auftrag“ gibt, in allen seinen Verfahren die Zeugen zu laden und dann zu vernehmen.
Eine Gefahr besteht vor allem dann, wenn noch nicht klar ist, welche Rolle eine Person eigentlich innehat: Ist sie Zeuge oder doch (schon) Beschuldigter? Oder möglicherweise beides, wenn es um mehrere Tatgeschehen geht? Leider hängt diese Frage oft von der Einschätzung des zuständigen Ermittlers ab. Personen, die vielleicht tatsächlich etwas mit der Tat zu tun haben (oder möglicherweise auch nur befürchten, dass sie in Zusammenhang damit gebracht werden), konnten sich einer Befragung durch die Polizei bislang entziehen. Nun gibt es für die Polizei die theoretische Möglichkeit, jede Person erst einmal als Zeugen vorzuladen – auch wenn es vielleicht schon einen gewissen Tatverdacht gegen die Person gibt. Die Erscheinenspflicht führt zumindest zu besseren Möglichkeiten, den „Zeugen“ zu einer Aussage zu bringen, was – so die Befürchtung – zu vorschnellen Aussagen führen kann.
Gerade bei Personen, die sich ihrer Rechte nicht sicher sind, führt dies womöglich dazu, dass ein als vermeintlich erscheinens- und aussagepflichtiger Zeuge erst einmal Angaben zur Sache macht, die er ohne Pflicht zum Erscheinen nie gemacht hätte. Insofern ist es mehr denn je äußert wichtig, jederzeit mit seinen Rechten im Strafverfahren und im Umgang mit der Polizei vertraut zu sein.
Es werden sich in Zukunft sehr wahrscheinlich mehr Fälle ergeben, in denen es auch als Zeuge sinnvoll sein kann, sich vor der Aussage über damit verbundene Probleme zu informieren.
Eisern Union!
Rechtsanwalt Dirk Gräning